W. Bickenbach: Gerechtigkeit für Paul Grüninger

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Titel
Gerechtigkeit für Paul Grüninger. Verurteilung und Rehabilitierung eines Schweizer Fluchthelfers (1938–1998)


Autor(en)
Bickenbach, Wulff
Reihe
Reihe Jüdische Moderne 10
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sabine Mecking, Historisches Seminar VI, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Während Paul Grüninger (1891–1972) in aller Welt für seinen Einsatz als Fluchthelfer zu Zeiten der NS-Herrschaft in Europa geehrt wird, erhält er in seiner schweizerischen Heimat «mit nur viel Knirschen und zähem Widersetzen» (Jacques Picard) entsprechende Anerkennung und Würdigung. Wie schwer es sowohl Bundesrat als auch Kantonsregierung oder der Stadtleitung in St. Gallen bis in die jüngste Vergangenheit fiel, das «menschliche» Verhalten ihres früheren Polizeihauptmannes angemessen zu würdigen, kann detailliert in der 2008 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf angenommenen Dissertation von Wulff Bickenbach entnommen werden. Zu nennen sind dabei u.a. Widerstände hinsichtlich einer Platzbenennung in St. Gallen, Querelen um die Umbenennung eines Fussballstadions zu Ehren Grüningers oder die mangelnde Berücksichtigung seines Falls in Schulgeschichtsbüchern.

Nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland bot die Grenzregion des benachbarten Kantons St. Gallen ein wichtiges Tor für eine Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung. In den Jahren 1938 und 1939 verhalf Paul Grüninger als Polizeikommandant mehreren hundert Menschen zur Einreise in die Schweiz, und rettete damit die überwiegend jüdischen Flüchtlinge vor der Deportation und dem Tod. Als Leiter der Kantonspolizei nutzte er die Handlungs- und Entscheidungsspielräume, die sich aus konkurrierenden Kompetenzen und Zuständigkeiten ergaben, bis er 1939 wegen seiner Fluchthilfe aus dem Polizeidienst entlassen und dann ein Jahr später gerichtlich verurteilt wurde. Bickenbach weist in seiner Untersuchung einmal mehr darauf hin, wie lästig die jüdischen Flüchtlinge der Schweiz waren, «man wollte sie weder aufnehmen noch die wenigen legal ins Land gekommenen Flüchtlinge lange behalten» (S. 296). Zwar protestierte die Eidgenossenschaft auf diplomatischem Wege gegen die Vertreibung und Abschiebung der Juden aus Österreich, andererseits wurde alles vermieden, die deutsche Judenpolitik grundsätzlich zu kritisieren oder das NS-Regime herauszufordern. Dabei war in St. Gallen bereits 1938 (und nicht erst seit 1942) die Verdrängung und Verfolgung der Juden in Nazi-Deutschland bekannt, wie Bickenbach anhand der Auswertung von lokalen und regionalen Zeitungen belegt.

Während das Wirken Grüningers als Fluchthelfer spätestens seit der Studie von Stefan Keller aus dem Jahre 1993 als gut erforscht gelten kann, betritt Bickenbach mit der Analyse des langen und schwierigen Weges der Rehabilitierung nach 1940 wissenschaftliches Neuland. In der Studie werden Hemmnisse und Schübe für eine Wiedergutmachung dargelegt. Der Autor arbeitet überzeugend die Blockierungs- bzw. Verteidigungsstrategien seitens der Bundes-, Kantons- und Stadtbehörden heraus, die einer schnellen Aufhebung des Urteils entgegenstanden. Allgemein war die Neigung ausgeprägt, das Vergangene ruhen zu lassen und keine Kritik an Vorgänger-Regierungen zu äussern. Finanzielle Belastungen für den öffentlichen Haushalt sollten vermieden werden. Kompetenzzuweisungen zwischen kantonalen und staatlichen Zuständigkeiten und insbesondere die unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen liessen weitere Zeit verstreichen. Überhaupt hatte nach dem Zweiten Weltkrieg weder die Schweiz selbst noch hatten im Zuge des Kalten Krieges westliche Bündnispartner ein Interesse daran, das Verhalten der «neutralen» Schweiz während der 1930er und 1940er Jahre zu hinterfragen. Erst in den 1980er Jahren, als überall in der Gesellschaft «eine jüngere kritischere Generation» mit mehr Abstand zu den Geschehnissen ihre Stimme erhob, setzte eine neue Phase der Vergangenheitsaufarbeitung und Rehabilitierungsbemühungen auch in der Schweiz ein. Die Unterstützer Grüningers kamen vornehmlich von privater Seite, insbesondere ist hier das unermüdliche Engagement seiner Tochter Ruth Roduner-Grüninger zu nennen. Der Verein «Gerechtigkeit für Paul Grüninger » hielt durch eine geschickte Medienarbeit den öffentlichen Druck permanent aufrecht. Der zehnte Rehabilitierungsversuch war dann erfolgreich. Grüninger wurde im November 1995 und damit 55 Jahre nach seiner Verurteilung und 23 Jahre nach seinem Tod umfänglich vom Vorwurf der Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung freigesprochen.

Bickenbach macht in seiner Untersuchung deutlich, dass sowohl die Verurteilung Grüningers 1940, als auch seine rechtliche Rehabilitierung in den 1990er Jahren beides politische Prozesse waren. Im ersten Prozess machte die St. Galler Regierung politische Vorgaben für eine gerichtliche Bestrafung des Fluchthelfers; im zweiten Prozess wurde Grüninger rehabilitiert, ohne dass hierfür die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt waren. Obgleich keine neuen Erkenntnisse im Fall vorlagen, fand eine Wiederaufnahme des Prozesses statt. Möglich wurde dies durch eine breite Unterstützung durch die politische Opposition und überhaupt durch den zunehmenden öffentlichen Druck. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Auseinandersetzung mit der unbequemen Vergangenheit samt Flüchtlingspolitik von den Beteiligten letztlich auch immer vor dem Hintergrund aktueller Flüchtlings- und Asyldiskussionen ausgetragen. Die Studie widmet sich mit dem Leben und Wirken Paul Grüningers und der Bewertung seines Handelns damit nicht nur einem bewegenden Einzelschicksal, sondern sie gibt auch tiefe Einblicke in die schweizerische Gesellschaft bis in die Gegenwart hinein. Schliesslich blieb der Fall und überhaupt die zunehmend lauter artikulierte Forderung, sich stärker der Vergangenheit zu stellen, nicht folgenlos: 1996 setzte der Bundesrat eine unabhängige Expertenkommission zur Aufarbeitung der Geschichte der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges ein; acht Jahre später trat ein Gesetz zur Rehabilitierung Schweizer Fluchthelfer in Kraft.

Die Arbeit belegt einmal mehr, wie erhellend und ergiebig die Untersuchung der Handlungs- und Entscheidungsspielräume von Behörden und politischadministrativen Systemen bzw. von Menschen, die diese Systeme repräsentieren, sein kann – und dies gilt sowohl für die Ereignisse und Entscheidungen, die zu Grüningers Verurteilung als auch zu seiner Rehabilitierung geführt haben. In diesem Sinne sind der gut lesbaren, empirisch dicht recherchierten Studie zahlreiche Leser zu wünschen.

Zitierweise:
Sabine Mecking: Rezension zu: Wulff Bickenbach: Gerechtigkeit für Paul Grüninger. Verurteilung und Rehabilitierung eines Schweizer Fluchthelfers (1938–1998). Köln/Weimar/Wien, Böhlau Verlag, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 2, 2011, S. 258-260

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 2, 2011, S. 258-260

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